Spitzwegerich
Lyrik des performance-basierten Kunstfilms • www.spitzwegerich-derfilm.de
© VestAndPage 2016
EINGANG
7. Mai
In der Wand des Hauses der Geschichte ist ein Riss,
aus dem Vergangenheit und Gegenwart heraustreten
und die Zukunft eintritt.
Da ist eine Wunde im Schoß der Geschichte
Eine Narbe, die niemals heilt
Denn keiner kann sich ihr nähern.
Also sagst du: "Das ist der Ort."
Einer von vielen, wo es war
Dort, wo es das "Hier bin ich" nicht mehr gibt.
Wir lassen die Sterne hinter uns
Und ein paar ferne Lichter
Flackern auf dem Felde.
8. Mai
Es ist immer Zeit, zu gehen:
Ein getuschter Himmel aus Schmutz und Liebe,
Häuser in Flammen achtlos im Wind,
Aerosol - Öl und Kerosin:
Eine schattenschwere Wolke
ausgespien aus der Hölle,
Wie ein Kalb an seinen langgestreckten Beinen
Mit Zwang herausgezogen
Aus dem blutenden Schnitt an seiner Mutters Seite.
Es ist jetzt Abend:
Ein schmales Kissen aus Heu, ein Tag vergeht,
Wir bleiben wachsam, und dasselbe Gewicht auf unseren Rücken.
Gezogen von der Zeit, Zeit-verschlissen,
Von der Zeit verbraucht, verbrannt.
Der Treck setzt sich wieder in Bewegung.
MINNA
9. Mai
Hinter den Hügeln, dort drüben,
Stelle ich mir die Sonne weiß vor
Schwingend, als säße sie auf einer Wippe.
Immer noch der Morgen, eine neugeborene Mutter stirbt, eine Geschichte wie jede andere.
Wir gehen weiter, ziehen weiter, und machen weiter.
In der Stille, nur Raunen darüber, wie lange es dauern könnte.
10. Mai
Ein zu langer Weg.
Ein viel zu langer Weg, wurde mir gesagt.
Steckengeblieben in der Hälfte der Geschichte
Wovon eine Hälfte niemals ist
Und die andere mit Juwelen trügerisch geschmückt.
Ich nähere mich,
Ich spreche vertraulich mit Dir, von unserem Vertrauten,
Und das ist vielleicht noch das Wichtigste.
11. Mai
Der Schmerz bewegt sich durch den Körper,
Gleitet, schlittert, auf und ab von Beinen zu Schultern,
Hinter Schlüsselbeine, Knie, Gelenke und Sehnen.
Fließt in das Wasser, das auf den Bürgersteigen stagniert,
Schleicht sich in den Schatten meines Atems
Der Bernstein wartet, ihn zu ummanteln.
Sümpfe, Farne, Krähen, eine Fledermaushöhle:
Ich brauche keine Dokumentarfilme anzusehen,
Ich trage doch die Geschichte selber in mir.
12. Mai
Wir trinken was wir gefunden haben, tun so als wäre es Wein,
Wir hinterfragen uns gegenseitig über Grundsätze:
"An was erinnerst Du Dich?"
13. Mai
Der Glockenturm einer weiteren Geisterstadt, die verlassenen Minenfelder:
Gebe acht auf meinen Gürtel, nach Lieblichkeit sehnend
Ich blicke hungrig zurück.
14. Mai
Er war genau dort begraben, zwanzig Jahre lang oder länger,
Dann wurde sein Körper aus dem Boden entfernt.
Wer weiß, wo er hin ist.
Weiße Wolken, blauer Himmel und die Sonne
Leuchten hell über einem Ufer
Das ich noch immer nicht erreichen und sehen kann.
Heute kann ich meine Füße kaum bewegen,
Ich brauche einen Holzstock,
geschnitzt aus meinen Träumen.
Kenne ich den Preis für die Suche nach Erinnerungen?
Kenne ich den Wert des Alltags?
Verstehe ich den Wert einer einfachen Handlung, das Reiben meiner Hände um sie zu wärmen?
15. Mai
Bürgersteige, Straßen und Durchgänge
Die schon einmal begangen wurden
und die wir nie wieder betreten werden.
Ich blicke auf Fotos, die ich vor meinem Weggang eingepackt hatte.
Es sieht aus, als wäre die Geschichte von ihnen abgewischt worden.
Geschichte hat unsere Geschichte versperrt, und der Rest ist, wenn nicht Schweigen, so doch nostalgische Bilder in einer Kiste.
Vor unseren Augen Tierleichen in verlassener Fäulnis,
Wir gehen vorbei am See in dessen Wassern sich in der Entfernung die Kuppel
Einer zerstörten Kirche spiegelt, wie ein angeknabberter Kuchen.
Ein verletzter Junge summt ein Lied
Ich kann mich an die Worte nicht erinnern.
Ich pfeife einige Noten, um seine Klage zu lindern.
(Nur) Eine Frau ist übrig: eine, anstelle von dreien.
Die vierte, über sie sagt man: manchmal in Schwarz manchmal in Weiß.
Sie spielt Schach. Sie tanzt blind zur Melodie eines alten Wiegenliedes.
16. Mai
Ein Teich am Bach:
"Nehmt nur ein paar Dinge mit Euch:
Wir werden nur acht Tage weg sein, vielleicht vierzehn."
Wir lassen unser Haus zurück.
Wir schließen uns der Gruppe der anderen an.
Ich höre zwei Männer reden in der Nähe:
"Wissen Sie, wer Kant war?
Wissen Sie, was die reine Vernunft ist?
Wissen Sie, was das Dasein ist?"
"Nein, ich erinnere mich nicht.
Aber ich entsinne mich, dass jemand mir erzählte - über einen Krieg.
Wird das ein Ende haben?"
GERDA
17. Mai
Ein alter Mann mit einem weißen Bart begrüßt uns.
Er erzählt uns von seinem Haus, gebaut vor drei Jahrhunderten,
Die Sehnsucht nach dem Gutshof und Ackerland seiner Eltern.
Seine Söhne sind seit Monaten fortgegangen:
Er sagt, Südwesten, um die Zukunft zu erreichen.
"Eines Tages werde ich dieses Haus in eine Schule verwandeln."
Der alte Mann kann es nicht lassen,
Seine Heimat wie ein Bann
Erlaubt es ihm nicht, das Verlassene zu verlassen.
18. Mai
Ich erinnere mich an den großen Schlüssel aus Schmiedeeisen
Der die Tür öffnete zum geheimen Garten hinter unserem Haus.
Welche Tür öffnet sich nun vor uns?
Zimmer einer dunklen Zeit: Narbe der Geschichte.
Auch die Sonnenstrahlen mindern nicht das Grauen dieser Ruinen.
Das Knarren eines Schaukelstuhls:
Jemand sagt, jemand lebe noch immer dort,
Aber wer weiß, wann sie wiederkommen.
19. Mai
Die Winde wehen jetzt härter: eine unaufhaltsame Armee.
Ich möchte ein Dieb sein und Feuer stehlen von unter der Erde
Um uns alle zu wärmen, aber es gibt kein Feuer zu stehlen, nur zu vermeiden.
Sie war es gewohnt, den Zug zu nehmen
Um an die Küste zu gehen und frischen Fisch zu kaufen,
Ich weiß nicht, ob ich jemals das Gleiche tun kann.
20. Mai
Die Männer verschieben Stämme, um den Weg frei zu machen,
Während Zeit und Tod tanzen
Auf den Hügeln verbrannter Bäume.
Wir steigen hinauf und gehen zur Küste,
Unsere Zeit achter und den Tod nahebei
Zu beobachten, was geschieht, und es ist.
Ein verzweifelter Stillstand,
Es gibt einige Schönheit in all dem.
21. Mai
Wenn man auf dem Weg tiefen Rauch sieht
ist es das Zeichen einer Stadt, die soeben ausgelöscht wurde.
Wir versuchen, die Angst durch das Auflisten der Namen alter Freunde zu überwinden.
Wir reden über unsere Familien,
Fliegen hoch mit unserer Phantasie,
Erinnern uns an die Bücher, die wir gelesen haben.
22. Mai
"Wo bist du?"
Wir haben einen neuen Weg zu verfolgen.
Geh und erzähle es Oma und Tantchen.
Großvater führt den Treck nun an,
Kein sicherer Ort, um sich auszuruhen.
Wir gehen in kleinen Schritten, ganz gleich, wohin?
23. Mai
Meine Beine schmerzen beide, auf erstaunlich verschiedenartige Weise,
Wegen unterschiedlicher Verletzungen.
Jeder Schritt verschiebt Glassplitter mit den nackten Füßen.
Ist eine Wunde ein Zeichen, ein notwendiger Schritt auf dem Weg zu Schutz und Heilung?
Der Mensch ist verpflichtet, über sich selbst zu lügen und über sich selbst zu vergessen,
Wenn er die Richtung verliert.
Wir erreichen einen Leuchtturm.
Hier frisst das Meer einen halben Meter im Jahr die Küste.
Wenn ich jemals zurückkehre, möchte ich diesen Turm leuchten sehen.
24. Mai
Der Strand ist lang und unendlich weiß.
25. Mai
Eine weitere Nacht ohne Schlaf vergeht.
Jeden Tag werden wir mit den Toten geboren
Und sterben mit den Sterbenden.
Flugzeuge auf dem Grund zerschmettert
Wir überqueren einen verlassenen Flugplatz und sein einheitliches Grau.
Ich denke an den Spielplatz der Kinder.
Lagen wir hier für ein paar Stunden oder für Jahre?
Geworfen und gefunden, gefrieren oder tauen
So lange, wir würden uns in schäbige Blütenblätter verwandeln.
Werde ich jemals wieder mit Dir zuhause sein?
Ich habe keinen Schlaf gekannt wie diesen kriechenden Schlummer,
Farben wie diese, offenbart an diesem Morgen.
Fleisch erkaltet leise,
Deine Hand in meiner Hand so still und diskret,
Ich beobachte das Vieh, ängstlich.
Es gibt nichts mehr von dem Ort, an dem ich lebte; hohes Gras wächst an seiner Stelle.
Vielleicht ist dies der höchste Grad der Liebe:
Zu lieben ohne zu besitzen
Was ich einst mein zu sein glaubte.
26. Mai
Sich ortlos zu fühlen ist wie Ausatmen, nicht wie Einatmen.
Ich höre in mich: einmal, zwei, dreimal.
Wo bin ich? Ich bin gegangen, und ich schaue immer noch zurück.
Störung. Unterbrechung. Ein Schritt. Wieder unterbrochen.
Wir machen eine Pause. Können wir jetzt gehen? Ich frage ein drittes Mal.
Eigentlich gibt es keinen Bruch, nur einen weiteren Weg, rundum, oder hinauf,
Aber nicht hinab. Ein weiterer Schritt, wieder unterbrochen.
Wir suchen und sind immer noch auf der Flucht.
Lauf, lauf, lauf andersrum.
Wieder ein, zwei, drei Mal.
Wir leben das Gegenteil von dem, was "Anfang" genannt wird.
Wir sind bis hierher gekommen, aber das ist nicht die Lösung,
Ich weiß nicht, wo wir sind,
Wo auch immer, vermute ich.
Die ganze Zeit kämpfen wir darum, nicht unterzugehen.
Wir atmen aus und schauen in die Vergangenheit,
Wir steigen auf, atmen ein und gehen der Zukunft entgegen.
Wie genesen wir? Und wo?
Wieder unterbrochen, und wieder, und wieder
Ganz allein laufen wir dem Nichts entgegen.
Leise Stimmen, laute Stimmen, unsichere Bewegungen.
Wir gehen alle gemeinsam, mit dem Gefühl,
uns entgegengesetzt zueinander zu bewegen.
Es kommt in Stücken. In Stücke fällt es. Wir fallen auseinander.
Was ist es, an was ich in diesen gnadenlosen Stunden
noch festzuhalten habe? Liebe?
27. Mai
Wir bewegen uns auf Wegen, die von Heiligen und Teufeln geprägt wurden,
Das Geräusch von Flugzeugen zunächst nah und dann fern,
Wir überdauern eine weitere frostige Nacht.
Ich träume meine Wälder und die unendlichen Weiten der gelben Rapsblüten.
28. Mai
Vom Meer zerfressen ist die Küste ein Friedhof gefallener Pfähle,
Verschluckt, abgetragen und wieder ausgespuckt von den Wellen.
Die Wolken dunkel und schwer.
Ich helfe einer älteren Frau, die kämpft zu laufen.
Heute scheint es mir, als gäbe es mehr Schandflecken im Himmel und auf Erden
Als sich die ganze Philosophie hätte träumen lassen.
29. Mai
Eine schwarzgekleidete Frau nähert sich uns
Mit stillen Tränen in den Augen
Sie flüstert, da drüben liegt jemand im Sterben.
Ein anderer zieht aus seinem Koffer eine alte Geige
Und fängt an zu spielen.
Die Noten vermischen sich mit dem Rauschen des Meeres.
Seine würdevolle Einsamkeit erscheint mir so prachtvoll:
Wie ein Lichtstrahl, der unsere Dunkelheit zerteilt.
Ich stelle mir vor, jeden gefallenen Baum aufzuheben mit meinen Händen.
30. Mai
Wieder auf der Straße, unterwegs nach einem Land, das nicht da ist,
einem Land, dass nicht mehr ist. Wir kommen voran.
Ein kurzer Blick und ich sehe Hügel von tausenden verbrannten Schuhen.
31. Mai
So wird das Haff ein großes, offenes Grab.
FRANZ
1. Juni
Die Welt ist so unendlich klein geworden.
Es gibt keine kurze Antwort.
Was übrig bleibt, ist einfach weiter zu gehen, weiter, gehen.
2. Juni
Ich verbinde den Zweck mit dem Unaussprechlichen,
dadurch hat dieser Weg kein Ende.
3. Juni
Keiner von uns kann an den Anfang zurückkehren,
Hier endet jegliches Konzept.
4. Juni
Sind die Antworten, die ich suche
in den Steinen aufgezeichnet wie Schichten der Zeit?
Wir waren an einem Ort, an dem sonst keiner war.
Der Mensch soll niemals begehren das zu erblicken
Was die Götter mit Finsternis und Schrecken verdecken.
Wir waren in einer Welt, allen Außenstehenden unvorstellbar fremd.
In der Stunde, in der die Menschen sich zu beweisen haben,
und zeigen müssen, dass sie Menschen sind,
werden sie zu Tieren.
Verehrt und weggetragen
Wie ein Schutzengel oder ein heiliger Geist,
Er wird nichts in Frage stellen. Nicht mehr.
Einst war ich eine, jetzt bin ich eine andere.
Wenn ich morgen überdauere,
Werde ich immer noch neu sein, und alles andere Vergessen.
5. Juni
Ich habe nicht einen sondern zwei Schatten.
Einer ist weiß,
Sie ist der Faden, der die Geschichte webt,
Die nicht ist, aber da ist, unsichtbar.
Sie markiert den Lauf der Zeit
Und wandert hin und her
Obwohl ihre Zeit stillsteht.
Die andere ist schwarz,
Sie trägt Vorzeichen, Verlust und Träume
Ihre Aufgabe ist es, das Kapitel zu schließen,
Wenn ein anderes zu beginnen bereit ist,
Wenn das, was zuvor da war, weg ist.
6. Juni
Wenn ich reinen Tisch machen könnte
Aus der Asche dessen, was vorher war,
könnte ich neue Perspektiven zeichnen, Jahr um Jahr.
Dann gibt es nur Stille.
Wenn ich standhalte, wird mein letzter Tag ein leeres Blatt Papier sein.
Ich erinnere mich nicht, ich entsinne mich nicht.
Ich habe keine Vorstellung von und Erinnerung an überhaupt nichts.
So geht der Krieg.
7. Juni
Es wird immer gesagt, kaum verständlich,
Kaum geflüstert, mit leiser Stimme
Als ob es keiner hören solle:
Viele Frauen wurden vergewaltigt.
Wir mussten die Jüngeren verstecken.
Wir mussten ihnen heimlich Essen bringen.
Viele Jahre sind seitdem vergangen.
Eines Tages, ich laufe auf einem zugefrorenen See und plötzlich kommt es wieder an die Oberfläche
Alles, was ich erlebt habe beim Überqueren des Haffs.
8. Juni
Wir flohen mit einer Kutsche, gezogen von zwei Pferden.
Eines ein Rennpferd; das andere ein weißer Hengst.
Der Kutscher Franzose.
Ich sah Mutter aus dem Wagen springen,
Dem Kutscher die Zügel entreißen und die Pferde umlenken, weg, von wo das Eis brach.
Eines Tages war das Rennpferd verschwunden.
Wenn man klein ist sieht man so viele Dinge, die man nicht sehen sollte,
Aber es gibt auch viele Dinge, die einem entgehen.
Es blieb nur der weiße Hengst.
Dann bewegte sich unsere Kutsche nicht mehr
Und wir mussten zu Fuß weiter.
Viele Jahre später sagte mein Bruder mir,
Dass der weiße Hengst tot war
Und dass sie ihn gegessen hatten.
Als wir auf dem Eis liefen
Sah ich vor mir Kutschen
Verschwinden unter der Oberfläche des Eises.
Mutter sagte dann immer, dass sie das taten
Weil sie eine Abkürzung nehmen wollten
Um schneller auf die andere Seite des Haffs zu gelangen.
Als ich einmal fragte warum wir nicht das Gleiche täten,
antwortete sie nur, dass sie uns nicht noch mehr als bereits schon
verkühlen wollte.
GERTRUD
9. Juni
Wir gehen weiter.
"Wir müssen dorthin gehen!" sagst du.
Wohin? Es macht keinen Unterschied.
Es macht jetzt keinen Unterschied für mich
Ob die Welt jemals existierte
Oder es nichts gab, nirgends und niemals.
Ich habe begonnen zu spüren, dass mit mir da nichts war.
Zuvor gab es viel, oder auch gar nichts.
Es macht keinen Unterschied für mich.
Ein kleines Mädchen packte mich am Ellbogen.
Sie war vielleicht sieben Jahre alt,
In einem kleinen Mantel, alles nass, und zerrissene Schuhe.
Ich erwehrte mich, sie wegzujagen.
Sie lief neben mir her und würde mich nicht mehr verlassen.
Sie weinte nicht.
Ich beugte mich über den Körper.
Ich kramte in den Taschen ihres abgenutzten Mantels.
Ich fand nichts, nur eine Kamee aus Bernstein.
Ich gab sie dem Mädchen: "Verliere das nie," sagte ich zu ihr.
So geht der Krieg, bis es keinen Platz mehr gibt für Tränen.
10. Juni
Wir sind in Bewegung, aber wir können uns nicht bewegen.
Während ich dort so bin wird es mir klar, dass ich von nun an
nicht mehr in der Lage sein werde, meine Angst in Worte zu fassen:
Mittlerweile habe ich sie so viele Male geschluckt, dass sie zu etwas anderem geworden ist.
KARL
Wir luden Lebensmittel, Benzin und Waffen.
Der Winter: - 47°. Kommando, "Gefrierfleisch".
Flugzeuge blockierten die enge Landebahn, Flugzeuge brachen auseinander in der Kälte.
Dichter Nebel. Tiefe Wolken. Eisiger Regen. Schnee und Glatteis bedeckten den Boden.
Gefrorene Ölleitungen, Kolbenfresser und die hydraulischen Pumpen versagten.
Kein Verlass auf die Instrumente, der Funk aus.
Meine Finger gefroren an dem Schraubenzieher.
Wir waren immer noch im Blindflug.
05.20 Uhr am Morgen. Heiligabend.
Der Gefechtslärm mischte sich mit dem Dröhnen der Motoren.
Wir wussten nicht, woher die Schüsse aus diesem Nebel kamen.
Ein Flugzeug brannte sofort, ein anderes explodierte.
Wir warteten auf den Befehl, "Dürfen wir nun endlich starten?"
Zeit verging.
Keiner fähig, die Verantwortung zu übernehmen. Panik.
Die nächsten 30 Minuten, nie zuvor und nie wieder.
Flugzeuge rollten über das Feld in alle Richtungen, ohne Plan.
Wolken zum Greifen nahe, Schnee und Eis aufgewirbelt von Rädern, Sicht unter fünfzig Metern.
Mit Vollgas, ins Unbekannte, überladen mit Munition und Spritkanistern.
Eine schwere Explosion: zwei stießen ineinander.
Umherfliegende Trümmer in Flammen.
Andere stießen schon auf der Rollbahn zusammen, hoben schwerfällig ab, sackten ab.
Unter Angriff,
Alles hängt jetzt vom Können unseres Piloten ab.
Die Hälfte der Flugzeuge hatten wir in weniger als 15 Minuten verloren.
Ich blieb für Tage im Kessel.
Kein Essen.
Die letzten Pferde waren aufgegessen.
Ich auf dem alten Kadaver eines Pferdes,
verschlinge sein rohes Gehirn.
11. Juni
Erinnere Dich an mich, aber vergiss mein Schicksal.
Erinnere Dich an meine Seele, aber vergiss meine Vergangenheit.
Erinnere Dich an mich in der Stille, und dann vergiss soviel Du kannst.
Wenn zwei Systeme kollidieren ist das Ergebnis Chaos und Verständnissverlust.
Ich stehe noch immer in einer grauen Kluft,
Umgeben von unschuldigen Mauern aus Schmerz und Trauer.
Jetzt muss ich Wissen entfernen,
Um Platz für einen neuen Glauben zu schaffen
Eine Weile geduldig sein.
Wahrscheinlich weist Geschichte das,
was der Mensch mit seinen Gedanken und Gefühlen auslöst, in die Schranken.
Krieg ist deswegen schlecht, weil er mehr Unheil erzeugt als vernichtet.
Ich bin das letzte von vier Kindern: zwei meiner älteren Brüder sind bereits gestorben.
Ich sah Vater zum letzten Mal in einer Stadt, in der er uns Verabredung gegeben hatte.
Und dann hatte ich keine Nachricht mehr von ihm.
Mutter fragte: sie sagten, er werde vermisst.
Ein paar Tage später wurde uns gesagt, dass die Stadt, in der wir ihn das letzte Mal getroffen hatten,
am nächsten Tag dem Erdboden gleichgemacht worden war.
Mutter sagte uns, dass es nun nichts mehr zu tun gäbe,
Dass unser Vater schon tot sei
Und wir aufhören mussten, an ihn zu denken.
Während der Flucht zog Mutter sich Typhus zu.
Sie wurde in ein Krankenhaus gebracht.
Ich erinnere mich nicht, wo das war.
Der Tag, an dem wir sie besuchen wollten: sie sagten uns, Mutter sei gestorben.
Meine Schwester und ich sind alleine.
Von diesem Moment an erinnere ich mich an nichts mehr.
Tante, eine sehr strenge Frau, rettete uns.
Onkel war ein Mann zerstört durch Krieg
Alkoholiker und geistesgestört.
Ich verstehe jetzt, warum Tante so war:
Wenigstens eine musste alles ertragen für die anderen
Und die Tage am Leben halten.
Eine von zwei Kriegen verwüstete Zeit,
Jeder Mann entweder durch den ersten
oder den zweiten oder beide gekennzeichnet.
TUTTI
12. Juni
Wenn die Welt heute zu Ende ginge,
Was wären die letzten Zeilen zu schreiben, die letzten Worte zu sagen?
Als ich seine Hand halte,
versuche ich mein Zittern zu stoppen,
Fast hätte ich ihm alles erzählt.
Ich war so weit zu sagen, dass ich schuld war
Für das, was ich erlebt hatte
Obwohl diese Dinge, die geschehen waren, nicht meine Schuld sein konnten
Als meine Finger die Räder ergreifen
Von meinem Stuhl, der sich kaum bewegt
Erinnere ich Mutter, und hören ihr zu wie sie nichts sagt.
Es begann mit ihr, mein Leben, als der Krieg begann,
Bis sie kamen, aus den harten Lichtern am Himmel,
Und sie jenseits der Grenzen brachten.
Wir waren im Wohnzimmer, die Eltern auf dem Sofa.
"In diesem Moment Deines Lebens kannst Du keine Freunde
haben, denn Du wirst sie bald verlieren."
Er hat uns nie davor gewarnt was vor sich ging,
Wir waren Kinder und er wollte uns nicht beschweren mit Sorgen.
An diesem Tag war es anders.
Es ist nun schon Jahrzehnte
Da sie weggingen,
Aber letzte Nacht war es, als wären sie hier.
Im Halbschlaf sah ich sie nur ein wenig entfernt stehen.
Mutter in einem schwarzen Kleid und Stiefeln mit Schnüren,
Ihr Gesicht blass, aber mit einem Lächeln.
Ich versuche mich zu erinnern, vor wie langer Zeit
dieser Tag war, an dem wir begannen zu fliehen.
So geht der Krieg.
Requiem aeternam dona eis, Domine, et lux perpetua luceat eis.
Agnus dei, qui tollis peccata mundi, dona nobis pacem.
VestAndPage, Spitzwegerich. Filmstill, 2018.