IM SCHILDE
2021, Imaginationsinstallation und öffentliche Intervention
Im Schilde ist eine Imaginationsinstallation und öffentliche Intervention, die anlässlich des 1250-jährigen Jubiläums der Stadt Neckarsulm konzipiert wurde. Die konzeptionelle Arbeit verbindet die Aufdeckung von Lebensgeschichten bedeutender, aber vergessener Frauen aus der Region mit einer Kritik am Androzentrismus in der Geschichtsschreibung. Die Arbeit fordert die Anerkennung und Benennung der Frauen im historischen Gedächtnis ein, exemplarisch durch Straßennamen als Mittel der Identitätsbildung einer Stadt und ihrer Bürger*innen.
Im Schilde ist die erste einer Reihe von forschungsbasierten feministischen Arbeiten über unter- und missrepräsentierte Frauen in der Stadtgeschichte, zu der auch die Erinnerungsaktivierung L–A–U–R–A und die Re-Lektüre Katharina F. (15) gehören.
Straßennamen spiegeln Zeitgeist wieder und folgen durch die Epochen bestimmten Mustern. So wurden in der Geschichte Straßen, Gassen und Plätzen benannt nach Zünften, sozialen Schichten, Kirchengemeinden, Städten, Herrschern, Würdenträgern oder anderen Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und Gesellschaft. Um Personenkult entgegen zu wirken, ist es seit 1945 in westlichen Demokratien üblich, öffentliche Straßen grundsätzlich nicht nach lebenden Personen zu benennen. Erst in den letzten Jahren hat in Deutschland eine Benennung von Straßen, Plätzen und Einrichtungen mit den Namen von Frauen, die grundsätzlich unterrepräsentiert sind, begonnen.
Im Neckarsulmer Stadtgebiet trägt etwa ein Viertel aller Straßen und Plätze die Namen deutscher Persönlichkeiten. Dabei ist das Verhältnis der männlichen Straßennamen zu den weiblichen 93:1. In öffentlichen Einrichtungen sind es 10:1. Im Schilde versteht sich als Einladung, auch große Frauen sowie diverse Persönlichkeiten aller Kulturen und Nationen zu würdigen.
Die Imaginationsinstallation beschäftigt sich exemplarisch mit 10 Neckarsulmerinnen vom Mittelalter bis heute, unter anderem mit dem Opfer der Hexenverfolgung im 16. Jahrhundert Rosina Walch; der Weingärtnerin und Stifterin im 19. Jahrhundert Laura Haas; der Barmherzigen Schwester Buneta Saup; den Neckarsulmer Jüdinnen wie Amalie Bodenheimer; oder der Volkshochschul-Mitbegründerin und Gemeinderätin Dr. Maria Müller.
Für die öffentliche Intervention stand Verena Stenke an Wirkungsorten der Frauen und hielt Straßenschilder mit deren Namen. Für die Ausstellung wurde das gedruckte und gerahmte Foto der Intervention neben dem Straßenschild und einer maschinengeschriebenen Kurzbiografie präsentiert. Bei der Ausstellungseröffnung sammelten wir mit dem Publikum weitere Frauennamen, die auf dem großen Original-Stadtplan als imaginäre Straßen und Plätze markiert wurden.
Im Folgenden finden Sie Informationen über die zehn Neckarsulmerinnen, deren Namen auf imaginären Straßennamen in der Stadt zu finden sind. Auf Google-Maps können Sie diese Orte den realen Straßen zuteilen.
ROSINA WALCH 16. Jhd. in Neckarsulm Die Witwe des Neckarsulmer Waffenschmieds wurde 1582 Opfer der Hexenverfolgung. Sie wurde der Hexerei verdächtig und angeklagt. So wurde sie von Zeugen beim Verhör für eine Reihe unerklärlicher Vorkommnisse verantwortlich gemacht. Unter Tortur in Verhören durch Henker und Scharfrichter legte sie jedoch kein Geständnis ab. Aus Mangel an Beweisen und Geständnis wurde sie freigelassen.
LEA MARUM † Frühsommer 1790 in Neckarsulm Im Sommer 1779 gab Lea Marum die farbig illustrierte Neckarsulmer Pessach-Haggada in Auftrag. Diese wird heute in der Universitätsbibliothek Straßburg aufbewahrt. Die Witwe des Weinhändlers und Hoffaktors Nathan Marum Levi war überregional kulturell und sozial aufgeschlossen.
LAURA HAAS (geb. BRUNNER) * 29.9.1835 † 14.11.1899 in Neckarsulm Namensgeberin der "Laurahöhlen", die ihr Vater Viktor Brunner 1860 auf dem Scheuerberg anlegte. Nach dem Tod des Vaters 1878 übernahm Laura das Weingut der Familie. Die Winzerin war Stifterin eines Kruzifixes, das bis 1937 vor den NSU-Werken stand, und bis 1920 die erste Station der Fronleichnamsprozession war. Der Sockel steht heute im Kalben. Sie stiftete 1885/6 die Seitenaltäre, Skulpturen und den Boden der Frauenkirche.
BUNETA SAUP * 31.5.1898 Neckarsulm † 1985 Untermarchtal Sie kam 1913 als Haushaltshilfe nach Frankfurt a.M. 1922 trat sie in die Kongregation der Barmherzigen Schwestern ein. Als Krankenpflegerin arbeitete sie im Zweiten Weltkrieg in Lazaretten in Stuttgart und Reutlingen. Bis 1950 war sie Oberin in Bad Buchau, bis 1952 in Kißlegg, und ab 1958 Leiterin des Oberndorfer Bürgerheims. 1979 wurde sie mit der Bundesverdienstmedaille ausgezeichnet, und erhielt die Oberndorfer Goldmünze.
AMALIE BODENHEIMER * 21.12.1875 Neckarsulm † 1942 Treblinka Die Neckarsulmerin wurde am 22.8.1942 vom Sammellager Killesberg in Stuttgart nach Theresienstadt deportiert. Am 29.9.1942 wurde sie von dort ins Vernichtungslager Treblinka überstellt und vermutlich unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordet. Ihre beiden Halbschwestern waren Elsa Bodenheimer und Sophie Wilhelm. Beide lebten nach Amalies Deportation in Angst. Sophie Wilhelm pflegte nach Kriegsende den Jüdischen Friedhof.
SOPHIE JACOB * 27.05.1882 † vermutl. 1942 Riga, KZ Jungfernhof Die Neckarsulmer Haushaltgehilfin zog Ende 1936 zur Arbeit nach Stuttgart. Von dort wurde sie am 1.12.1941 nach Riga ins Lager Jungfernhof deportiert. Offiziell gilt sie als verschollen.
ALICE HARBURGER (geb. RHEINGANUM) * 17.1.1906 Neckarsulm † vermutl. 1942 Riga, KZ Jungfernhof Die Tochter des jüdischen Neckarsulmer Geschäftsmanns Hermann Rheinganum wurde am Morgen des 28.11.1941 zusammen mit ihrem zehnjährigen Sohn Hans in ihrer Ulmer Wohnung festgenommen. Sie wurden nach Stuttgart gebracht und von dort am 1.12.1941 nach Riga ins Lager Jungfernhof deportiert. Offiziell galten beide als verschollen. Alice Harburger wurden nach dem Krieg für tot erklärt.
DR. MARIA MÜLLER (geb. HANS) * 9.5.1909 Frankfurt a.M. † 4.7.1995 Neckarsulm Die promovierte Philologin kam 1940 als Patent-Sachbearbeiterin zum KS nach Neckarsulm. Später arbeitete sie als Englischlehrerin und Übersetzerin. Ihr Engagement zeigte sie u.a. als CDU-Mitglied im Gemeinderat, Mitbegründerin und Leiterin der Volkshochschule, Organistin der amerikanischen Kirchengemeinde, Leiterin der Seniorenarbeit und VHS-Bildungsreisen. Sie erhielt das Bundesverdienstkreuz und Ehrenmedaille.
ILSE IBACH (geb. KUGELBERG) * 12.4.1921 Hamburg † 4.4.2002 Neckarsulm Die in Neckarsulm wohnhafte Autorin veröffentlichte zwischen 1958 und 1988 zahlreiche Kinder- und Jugendbücher sowie Hörspiele.
ELVIRA ANGELA GROSS * 12.11.1954 Neckarsulm † 25.8.2005 Eberbach a.N. Die Botanikerin forschte vor allem zu Bromelien Boliviens und Tillandsien. Sie legte zahlreiche Neubeschreibungen vor und veröffentliche eine Vielzahl an Büchern. Nach einer Lehre als Fotolaborantin promovierte sie in Heidelberg. Sie arbeitete viele Jahre wissenschaftlich am Botanischen Institut in Heidelberg und später in Bonn. Zu ihrem 50. Geburtstag wurde eine Bromelienart nach ihr benannt – die "Puya elviragrossiae".
Unser Dank geht an Vera Kreutzmann, Barbara Löslein und das Stadtarchiv Neckarsulm für die grundlegende Unterstützung in der Recherche. Die Geschichten von Rosina Walch, Lea Marum, Amalie Bodenheimer, Sophie Jacob und Alice Harburger werden ausführlich beschrieben im Buch Sulm ain Stättl | Neckarsulm. Einsicht in das Leben der jüdischen Gemeinde der Stadt gibt das Buch Die Neckarsulmer Juden, Eine Minderheit im geschichtlichen Wandel 1298-1945 von Ansbert Baumann. Weitere Informationen finden sich in den Historischen Blättern des Heimat- und Museumsvereins.
Wir danken Daniela Deul und Susie Bauer für das Initiieren und Organisieren der Ausstellung Die Sulm und der Neckar in der Volkshochschule, im Rahmen derer die Arbeit präsentiert werden durfte, sowie der Stadt Neckarsulm für die Unterstützung.
Wir danken Dagmar Stenke, Elisabeth Szirniks und Christel Wittmann vom Verein EntrAxis e.V. für ihre wertvolle Mitarbeit in der interaktiven Imaginationsinstallation, sowie Petra Müller, Fenia Kotsopoulou und daz disley für die aufmerksame Dokumentation der Ausstellungseröffnung in Fotografie und Video.
Wir danken der Stadt Neckarsulm und EntrAxis e.V. für die Unterstützung in der Produktion.